Seit Anfang 2022 bin ich reguläres Mitglied in der Deutschen Depressionsliga und ich freue mich, den Verein und dessen Anliegen mit meiner Mitgliedschaft unterstützen zu können. Am 10.02.22 erhielt ich neben dem offiziellen Bestätigungsschreiben auch eine Aufklärungsbroschüre über Depression. Neugierig blätterte ich sie durch und beim Abschnitt zu den möglichen Ursachen einer Depression stutzte ich. Sexueller, emotionaler und körperlicher Missbrauch, Gefühlskälte, Leistungsdruck in der Familie, Ausgrenzung, Lieblosigkeit, Gewalt, Trennung und/oder Scheidung der Eltern etc. – Leider wurden diese traumatischen Umstände nicht erwähnt bzw. nicht klar und eindeutig benannt (vgl. Deutsche DepressionsLiga, 2019, S. 11).
Umschreibungen, Tabuisierung, kühle Formulierungen
Selbst im Lexikon der Psychologie werden diese mitunter schwer(st) belastenden Lebensumstände nur am Rand als mögliche Ursachen einer Depression benannt. Zur Depression heißt es lediglich: „Auch traumatische frühe Erlebnisse (etwa Vernachlässigung in der Kindheit, schwerwiegende Erkrankungen) können eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für D. begünstigen.“ (de Vries & Petermann, 2021, S. 414). Zum Stichwort „Depression im Kindes- und Jugendalter“ heißt es u. a.: „(…) vorausgehende Risiken können das Temperament und die genetische Veranlagung (Verhaltensgenetik), frühe familiäre Belastungen sowie Mängel der Eltern-Kind-Interaktion (Eltern-Kind-Beziehung) und der elterlichen Erziehung und Bedürfnisbefriedigung erachtet werden.“ (Groen, 2021, S. 417).
Bitte nicht falsch verstehen: Ich will mit diesem Artikel nicht klugscheißern und neunmalklug wissenschaftliche Erkenntnisse in Frage stellen. Und natürlich kann einem erwachsenen Menschen völlig der Boden unter den Füßen weggezogen werden, wenn beispielsweise der geliebte Partner oder das eigene Kind verstirbt. Sich nach solch schrecklichen Ereignissen ins Leben zurückzukämpfen, die überwältigende Trauer und riesige Verzweiflung durchzustehen, ist keine Selbstverständlichkeit.
Die Dinge beim Namen nennen
Anhand meiner Aufarbeitungs- und beruflichen Erfahrungen möchte ich mit diesem Artikel dennoch den Fokus auf die Kindheit und Jugend als mögliche Ursache für eine Depression richten. Ich muss wirklich schlucken, wenn ich Formulierungen wie „Mängel der Eltern-Kind-Interaktion“ lese. Sexueller Missbrauch durch den Papa, Bruder, Stiefvater, die eigene Mama als „Mangel“? Kleine Jungs, die von ihren eigenen Müttern verprügelt werden, als „Mangel“? Kinder, die mit ansehen müssen, wie der (besoffene) Papa die Mama verdrischt und bedroht und miterleben müssen, dass sich die Mama nicht schützend vor ihre Kinder stellen kann, als „Mangel“? Kinder, die (möglicherweise unter Androhung von Strafen) zum Aufessen gezwungen und vor allen beschämt werden? Vielleicht sogar allein am Tisch sitzen gelassen werden ("Du stehst erst auf, wenn alles aufgegessen ist")? Und/oder vor Ekel wegen des aufgezwungenen Essens erbrechen und das Erbrochene essen müssen (siehe hierzu Nines Instagram-Account @ninesgeschichte und ihren Post "Triggerwarnung: Flashback" vom 16.08.22)? Kinder, die weggegeben werden? Kinder, die eventuell vom ersten Tag an zu spüren bekommen, dass sie nicht erwünscht sind? Denen mehr oder weniger subtil verdeutlicht wird: "Es wäre für alle besser, wenn du nicht da wärst"? Mädchen, die sich von ihren Eltern!!! anhören müssen, sie seien eben "zu schön" und sind somit angeblich selbst schuld daran, dass sie missbraucht werden? Jugendliche, die sich um ihre jüngeren Geschwister kümmern müssen, weil der Mama die Situation zu Hause entgleitet? Kinder, die schon in der Grundschule zur Nachhilfe geschickt werden; von denen das Abitur und dauerhaft gute Noten wie selbstverständlich erwartet werden? Babys und Kleinkinder, die ihre Körper nicht auf natürliche Weise erkunden dürfen, weil die Eltern mit ihrer eigenen Sexualität überfordert sind (vgl. Miller, 1983, S. 139 f.)? Kinder, die von klein auf als psychische Abfalleimer missbraucht werden und für deren Gedanken und Bedürfnisse sich einfach niemand interessiert? Kinder und Jugendliche, die nur dann Zuwendung erfahren, wenn sie den (wechselhaften und undurchsichtigen) Erwartungen der Eltern entsprechen? Kinder und Jugendliche, die unter narzisstischem Verhalten der Eltern leiden? Und das Tag für Tag für Tag für Tag… Kinder und Jugendliche, denen in all den Jahren niemand hilft – ein „Mangel“?
Und was ist mit "Temperament" gemeint? Das Kind hat Schuld, wenn ihm Leid durch überforderte Eltern widerfährt? Ist das wirklich so zu verstehen? Dann schnell zum Beispiel eine ADHS-Diagnose verpasst, Pillchen verschrieben und das Kind brandmarken? Wirklich?
Was ist mit Kindern, die in folgendem Milieu aufwachsen: Ende November 2020 saß ich in einem Regionalzug und war auf dem Weg nach Würzburg zu meiner Schwester. Ich saß zunächst ganz allein im Abteil und es war schon dunkel. Irgendwann stiegen unterwegs eine ca. 60-jährige Frau und ihr ca. 4-jähriger Enkel ein und setzten sich an einen Tisch in meiner Nähe. An ihnen schien zunächst nichts "Auffälliges". Die Oma des Jungen saß mit dem Rücken zu mir, den Enkel sah ich direkt von vorn. Doch schnell war klar, dass die Frau sehr aggressiv war. Sie blaffte und zischte den Jungen unentwegt an, er konnte nichts richtig machen. Ich spürte genau, dass sie sich nur gerade noch ein wenig zusammenriss, weil ich da war. Fieberhaft überlegte ich, was ich tun konnte und befürchtete, sie würde ihn jeden Augenblick schlagen. Da nahm sie plötzlich aus ihrem Rucksack ein kleines Kinderheft und warf es vor ihn auf den Tisch. Der Junge blätterte durch das Heft und fing leise an, zu erzählen, was er sah. Er tat wirklich nur das, er schaute sich das Heft an und sprach leise vor sich hin. Ohne Vorwarnung nimmt sie ihm auf einmal das Heft weg und zerreißt es vor seinen Augen... Selbst beim Schreiben sticht es wieder in meinem Herzen. Ich weiß nicht, warum sie so aggressiv und gewalttätig war. Was für eine furchtbare Szene. Der Junge weinte natürlich und sah mich an. Ich dachte nur: "Scheiße, mir muss etwas einfallen!" So ruhig ich nur konnte, sprach ich die Frau an. Ich beschrieb, was ich beobachtet hatte und wie aggressiv sie auf mich wirkt. Wenn es hätte sein müssen, hätte ich bis zum Ende der Zugfahrt mit ihr gesprochen, um ihren Fokus vorübergehend von ihrem Enkel wegzulenken. Aber sie stiegen wenig später aus und der Junge hüpfte seinen wartenden Eltern entgegen (ich nehme einfach mal an, dass es seine Eltern waren, das muss aber nicht so sein).
Oder: Als ich im Oktober 2018 in der Psychiatrie war, war ich an einem Tag wie immer auf meiner üblichen Spazierrunde. Ich lief auf dem Klinikgelände gerade um eine Kurve, als ich wie angewurzelt stehen blieb und augenblicklich innerlich gefror. Ich sah auf einem nahegelegenen Fußweg folgende dramatische Szene: Drei Erzieherinnen waren mit einer Kindergruppe unterwegs, die Kinder waren ca. 4-5 Jahre alt. Die Gruppe war aufgeteilt: Zwei Erzieherinnen standen mit einem Teil der Kinder schon etwas weiter entfernt von den übrigen Kindern mit der dritten Erzieherin. In der Gruppe mit der dritten Erzieherin löste sich gerade ein junger Vater von seiner schreienden, nach ihm brüllenden, völlig verzweifelten Tochter. Er ging dann in Richtung Suchtklinik. Was das Mädchen aus ihrer Perspektive nicht sah, ich allerdings schon: Auch der Vater weinte. Die Kleine schrie so entsetzlich, "PAPA!!! PAPA!!! PAPA!!!", immer wieder. Es war völlig klar, dass für dieses Kind gerade die Welt unterging. Was macht die dritte Erzieherin? Während die anderen beiden Frauen regungs- und wortlos herumstehen, zerrt sie plötzlich das Mädchen zur Seite und blafft sie an, sie müssten endlich weiter, denn es gäbe bald Mittagessen. Kein Mitgefühl, kein Trost, kein Drücken. Alle Drei versagten und ich irgendwie auch, denn der Impuls, zu dem Mädchen zu gehen, war tief in mir da. Das nagt bis heute an mir und ich habe mir geschworen, immer daran zu denken, wenn ich ähnliches wieder beobachte (deshalb schritt ich auch bei der Begegnung mit der Oma und dem Enkel ein). Auch wenn das dem Mädchen nicht hilft. Neben der Demütigung spürte und lernte das kleine Mädchen in diesem Moment, allen egal zu sein. Bei einer solchen Umgangsweise mit Kindern braucht sich unsere Gesellschaft nicht zu wundern, wenn sich Kinder und Jugendliche Messer in ihre Taschen stecken. Und nein, das hat nichts mit den so gern bemühten Übeltätern wie Handy, Fernsehen und Konsolenspielen zu tun.
Außerdem: Was ist mit den Babys und Kindern, die nach den Ansichten von Johanna Haarer erzogen wurden? Verprügelt, gedemütigt, immer auf Distanz gehalten, keine Nähe, keine Zuwendung, kein Trost, keine Liebe. Die vielen Kindheitserzählungen im Buch "Adolf Hitler, die deutsche Mutter und ihr erstes Kind" von Sigrid Chamberlain möchte ich manchmal einfach gar nicht glauben. Für mich sind die Schilderungen der Betroffenen mitunter kaum aushaltbar (zum Beispiel der Abschnitt "Das Kind nicht riechen können", Chamberlain, 2020, S. 48 ff.). Und doch kommt mir das ein oder andere, was Haarer empfiehlt, auch bekannt vor.
Bei Bettina Alberti heißt es: "Schon vor der Herrschaft des Nationalsozialismus erschwerten die preußischen Erziehungsideale eine sichere Bindung der Kinder zu ihren Eltern. Als Werte galten die Unterdrückung der emotionalen Welt und der seelischen Bedürfnisse, die Unterdrückung der Ichidentität und des Freiheitsstrebens, unbedingter Gehorsam, Unterordnung in Hierarchien und Autoritätsergebenheit. (...) Die nationalsozialistische Erziehungsdoktrin baute auf diesen Paradigmen auf und nutzte sie für die Durchsetzung ihrer Lebensphilosophie. (...) die nationalsozialistische Erziehungshaltung bewirkte eine Bindungstraumatisierung, die subtil, infiltrierend und emotional vergiftend war. Sie trennte Kinder seelisch von ihren Eltern und Eltern von ihren Kindern." (Alberti, 2021, S. 88).
Was das genau bedeutete, ist auch im Buch "Die geprügelte Generation" von Ingrid Müller-Münch nachzulesen. Viele Interviews zeigen, wie normal und anerkannt das Prügeln und Misshandeln von Kindern in unserer Gesellschaft war. Noch in den 1950er und 1960er Jahren! "Damals konnten Eltern ihre Kinder ungehindert maßregeln, ohne dass sich in Nachbarschaft oder Verwandtschaft jemand hierüber aufregte. Dabei müssen viele die Schmerzensschreie der misshandelten Kinder mitgehört haben. Doch Eltern fühlten sich im Recht, weil niemand da war, der ihnen den Rohrstock abnahm, ihnen Einhalt gebot. Das, was sie taten, war völlig legal." (Müller-Münch, 2019, S. 40).
Umschreibungen helfen nicht
In meiner Welt ist niemandem geholfen, wenn um Belastendes herumgeredet wird. Und wie wollen wir die Kinder und Jugendlichen von heute und morgen besser schützen, wenn wir noch immer so tun, als wäre in jeder Familie und in anderen gesellschaftlichen Bereichen (Vereine, Kirche etc.) alles harmonisch und in Ordnung? Das wirft natürlich unweigerlich die Frage auf, welche Erziehungsmethoden und Rollenbilder in früheren Jahrzehnten und Jahrhunderten vorherrschten.
Ganz langsam wird das Ausmaß des sexuellen Missbrauchs in der Kirche sichtbar; sexueller Missbrauch war leider beispielsweise auch im DDR-Leistungssport kein Einzelfall (vgl. Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs, 2019). Das Ausmaß der Gewalt in meiner Familie macht mich fassungslos; welche Rolle meine Urgroßeltern in der NS-Zeit einnahmen, weiß ich nicht. Meine Oma schämt sich mit ihren 80 Jahren noch heute dafür, dass sie „nur“ einen Hauptschulabschluss hatte und „nur“ Kassiererin war. In Frauenkreisen habe ich die Panik in den Augen von 60-Jährigen Frauen gesehen, die den großen Mut aufgebracht hatten, sich nach Jahrzehnten der Ehe-Tyrannei vom gewalttätigen Ehemann zu trennen – und dafür von gleichaltrigen Nachbarinnen (!) im gleichen Wohnhaus fertiggemacht wurden. Das lässt mich ahnen, mit welcher Erwartungshaltung und Rollenzuschreibung diese Frauen aufwuchsen. Und seit ich in Cottbus wohne, erzählt mir mein WG-Mitbewohner immer mehr über seine Kindheit. In meinen Augen ist es eine Tragödie. Seine Geschichte zeigt mir wieder, wie ausgeprägt Schweigen und Wegsehen in unserer Gesellschaft sind. Doch vielleicht berührt auch der Kummer eines anderen Menschen den eigenen ungesehenen Kummer…
Depressionen und Angststörungen spielen im aktuellen Gesundheitsmagazin der AOK Plus ebenfalls eine zentrale Rolle. Einerseits freut mich das natürlich, da dadurch immer mehr Vorurteile abgebaut werden. Doch um die Kindheit und Jugend als mögliche Ursache für diese psychischen Erkrankungen wird auch in diesem Heft weitestgehend ein Bogen gemacht. Es macht mich wütend, wenn der Fokus für die Ursachen von psychischen Erkrankungen wiederholt und hauptsächlich auf genetische Faktoren gerichtet wird (vgl. Koch, 2022, S. 12). Warum nennen wir die Dinge nicht beim Namen? Was soll sich so langfristig und nachhaltig ändern?
Es geht um mächtige Tabus
In meiner Wahrnehmung kommen lange verschwiegene und schwierige Themen auf uns zu (siehe hierzu beispielsweise den sehr zu empfehlenden Instagram-Account @kz.aussenlager.muehldorf). Doch meine Oma hat schon gesagt (du kennst den Satz bestimmt auch): Medizin, die hilft, schmeckt nicht. Wie wollen wir die Kinder von morgen schützen und effektive Therapien anbieten, wenn wir uns der Vergangenheit nicht stellen? Ich behaupte, dass wir beispielsweise die NS-Zeit nicht länger verdrängen können. Anhand meiner eigenen Aufarbeitung weiß ich, wie wichtig es ist, zu wissen, wie die eigenen Großeltern und Eltern aufwuchsen. Um besser verstehen zu können, warum passiert ist, was passiert ist und warum sie so handelten, wie sie handelten.
Damit ist ein weiteres großes Tabuthema verbunden: Frauen und das Kinderkriegen. Kennst du Sätze wie: „Ich war spät dran“, „Alle fragten schon, wann es endlich bei mir so weit ist“? Mutterliebe fällt nicht vom Himmel. Ich weiß, wie schmerzhaft dieser Textabschnitt ist. Aber er muss sein. Wie soll ich mich liebevoll um ein Kind kümmern, das mir in den Bauch geredet wurde? Kinderkriegen als Pflichterfüllung. Und dann? Die Psychologin Alice Miller sagt hierzu: „Ein Tabu, das alle Entmystifizierungstendenzen unserer Zeit überdauert hat, ist die Idealisierung der Mutterliebe.“ (Miller, 1983, S. 17).
Daran knüpft ein weiteres Tabu an: Sind die Kinder da, wird schnell wichtig, worin die Kinder „gut“ sind bzw. „gut“ zu sein haben. In meinen Augen sind wir sehr stark auf Leistung und vor allem auf Arbeit fixiert. Gefühlt und bewusst etwas übertrieben, sind die Kinder von heute ohne Abi und Studium scheinbar nichts mehr "wert". Leistung, Leistung, Leistung. Wehe, du kommst/kamst mit „schlechten“ Noten nach Hause! Durch einige Umstände war ich vor einigen Jahren bei Elternabenden meiner Schwester dabei und habe auch aus dieser Perspektive mitbekommen, was manche Eltern völlig selbstverständlich von ihren Kindern erwarten. Und mitunter sogar versucht wurde, die Lehrer unter Druck zu setzen.
Und: Gerade auf der weiterführenden Schule angekommen und schon geht es zur Nachhilfe. „Aus dir muss doch was werden!“, „Du sollst es besser haben als ich.“, „Kannst du mir bitte erklären, wie es mit dir weitergehen soll?“ Und dann „darfst“ du dich jedes Schulhalbjahr mit deinem Zeugnis beispielsweise vor die Großeltern (den Opa, als „Oberhaupt“) stellen und das Urteil über deine Leistungen „empfangen“. Der Gipfel der Perversion ist für mich, wenn dann noch Geschwister miteinander verglichen werden. Es richtet einen verheerenden Schaden an.
Wovor haben wir Angst?
Bitte nicht falsch verstehen: Ich rufe natürlich nicht zur Abschaffung unseres Sozialversicherungssystems auf. Ich, mit meiner Geschichte, bin mehr als dankbar, dass wir in Deutschland die Sozialversicherungen haben. Dennoch habe ich häufig den Eindruck, dass wir unseren ganzen Selbstwert am Arbeitsverhältnis ausrichten. Und das an die Kinder weitergeben. Doch wovor haben wir eigentlich solche Angst? Arbeitslos = Wertlos? Das Gehalt, die Position als Maßstab für den eigenen Selbstwert? So soll es weitergehen? Warum ist es nicht ok, wenn die Kinder Baggerfahrer/in, Bäcker/in, Schneider/in werden wollen? Weil man "da nichts verdient"?* Weil die Berufswahl angeblich etwas über die Intelligenz aussagen soll? Warum rümpfen wir die Nase, wenn die Jugendlichen mit 16,17,18 Jahren noch nicht wissen, was sie machen wollen? Wo ist das Problem? "Wenn das alle machen würden!", "Sittenverfall!", "Das gab's früher nicht!" - Früheres, erlittenes Unrecht auf die Kinder von heute abzuwälzen, ist in meinen Augen unfair.
Aus meiner Sicht können wir diesen Themen und Fragen nicht länger ausweichen. Und mit einer kleinen Anekdote über meinen Bruder möchte ich dir fürs Lesen danken:
Meine Schulzeit am Gymnasium liegt so lange noch nicht zurück. Purer Stress waren für mich schüchternes Mädchen die Lied-Leistungskontrollen im Musikunterricht. Es singt sich nicht gut, wenn Angst und Scham die Kehle zuschnüren. Dann passiert natürlich, was passieren muss: Vor der Klasse bekam ich neben meiner 3 oder 4 auch Sätze wie „Naja, Kirsten, weißte selbst: Das war nix“ mit auf den Weg. Und ich bewundere heute aufrichtig meinen Bruder, der die Situation ab der Pubertät und dem Stimmbruch anders löste: „Frau XY, Sie können mir gleich eine 6 eintragen. Ich singe nicht.“ Das zog er durch. Er gab sich die Blöße nicht und stand für sich ein. Daran denke ich immer wieder gern.
Herzensgruß
Kirsten
*Ich meine hier natürlich keine tatsächlich unterirdischen Ausbildungs(- und Studenten)löhne. Wenn das Unternehmen, in dem man seine Ausbildung (sein Studium) macht, beispielsweise an der Börse ist, dann aber bei den Ausbildungsgehältern mehr als herumknausert, ist das in meinen Augen auch mehr als fragwürdig. Andererseits ist es hinterfragungswürdig, ob "Made in billig" weiterhin unsere Devise sein soll.
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Quellen:
Alberti, B. (2021): Seelische Trümmer. Geboren in den 50er- und 60er-Jahren: Die Nachkriegsgeneration im Schatten des Kriegstraumas. 10. Aufl. Kösel.
Chamberlain, S. (2020): Adolf Hitler, die deutsche Mutter und ihr erstes Kind. Über zwei NS-Erziehungsbücher. 7. Aufl. Psychosozial-Verlag.
Deutsche DepressionsLiga e. V. (2019): Depressionen. Ein Leitfaden für Betroffene und Angehörige.
de Vries, U. & Petermann, F. (2021): Depression. In: Wirtz, M. A. (Hrsg.): Dorsch - Lexikon der Psychologie. 20. Aufl. Hogrefe.
Groen, G. (2021): Depression im Kindes- und Jugendalter. In: Wirtz, M. A. (Hrsg.): Dorsch - Lexikon der Psychologie. 20. Aufl. Hogrefe.
Koch, S. (2022): Wenn Angst das Leben bestimmt. In: AOK Plus. Das Gesundheitsmagazin. 01/2022. S. 11-13.
Miller, A. (1983): Das Drama des begabten Kindes und die Suche nach dem wahren Selbst. Suhrkamp.
Müller-Münch, I. (2019): Die geprügelte Generation. Kochlöffel, Rohrstock und die Folgen. 6. Aufl. Piper.
Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs (Hrsg.) (2019): Sexueller Kindesmissbrauch beim Sport: Die siebenten Werkstattgespräche. URL: https://www.aufarbeitungskommission.de/service-presse/service/meldungen/siebente-werkstattgespraeche-sexueller-kindesmissbrauch-beim-sport/ (abgerufen am 13.02.2022)
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Dirk (Mittwoch, 16 Februar 2022 16:44)
Warum antwortest du denn nicht, wenn dich jemand etwas fragt?
Kirsten (Mittwoch, 16 Februar 2022 18:15)
Hallo Dirk,
Danke für deine Frage. Möglichen Unmut bei einer ausbleibenden Antwort kann ich nachvollziehen. Doch mittlerweile bekomme ich so viele Mails, dass ich mit dem Antworten nicht mehr nachkomme. Es ist mein Anspruch, mir Zeit beim Schreiben zu lassen und nichts Halbherziges herauszugeben. Dazu möchte ich außerdem auf meinen Hinweis zum Umgang mit Mails in der Fußzeile verweisen.
Herzlicher Gruß
Kirsten
anders-einfach-besonders-Team (Dienstag, 02 Mai 2023 08:38)
Vielen Dank für diesen informativen Blog und deine Offenheit. Als Selbst-Betroffener kann ich da mitfühlen, lg
Kirsten (Dienstag, 02 Mai 2023 14:00)
Und ich freue mich über deine netten Worte. Herzlichen Dank dafür!
Viele Grüße
Kirsten
Suse (Freitag, 06 Oktober 2023 22:04)
Hallo Kirsten,
Ich bin nun fast 60Jahre und dein Blog berührt mich sehr,denn ich hab solches durch gemacht und es erging mir noch schlimmer.
Aber danke das du es so offen ansprichst.
Vielen Dank
Annette (Mittwoch, 24 April 2024 17:54)
Hallo. Ich suche immer wieder nach Berichten von Leidensgeno*ssinnen. Mein Vater ist früh verstorben..(mein Bruder 12,ich 9 Jahre alt) Wir mußten mit einer seid dem depressiven Mutter groß werden. Niemand kümmerte sich darum,dass wir auch unter dem Verlust litten. Meine Mutter schlug uns,wenn wir uns stritten oder etwas kaputt machten. Wenn wir nach hause kamen,schauten wir immer erst,wie die Stimmung ist. Ich habe nie zuhause etwas erzählt..(das ist auch heute mit 62 noch so) Meine Mutter weinte oft und ich fühlte mich schuldig. Als mein Bruder früh auszog,glaubte ich meine Mutter nicht allein lassen zu können..mit 17/18 Jahren blieb ich über Nacht schon mal bei einem Freund. Meine Mutter sprach tagelang nicht mit mir. Sie hatte mich nie aufgeklärt..ich verließ erst ziemlich spät das Elternhaus.
Kirsten (Mittwoch, 24 April 2024 22:42)
Liebe Annette,
deine Geschichte geht mir sehr zu Herzen. Du schreibst, dass ihr immer erstmal geschaut habt, wie die Stimmung war, wenn ihr nach Hause kamt. Ich weiß genau, was du meinst.
Die ständigen Schuldempfindungen; kein Platz für die eigenen Gefühle; die vermittelte Botschaft, unerwünscht/eine Last zu sein usw. - Es kommt mir bekannt vor...
Du bist keine Last, liebe Annette. Dein Vorname bedeutet "die Begnadete" bzw. "die Anmutige". Da kann nur ganz viel Tolles in dir sein :-)
Von Herzen!
Kirsten