Ich überlege schon länger, wie ich an das Thema herangehe: Wenn Frauen aufgrund von Rollenzuschreibungen und gesellschaftlichen Erwartungen zum Kinderkriegen gezwungen und genötigt werden. Und vor allem: Welche verheerenden Auswirkungen das auf uns alle hat.
Worum es im Artikel geht:
Missbrauch und erzwungenes Mama-Sein
Prügelnde, wegsehende, zusehende, den Täter ermunternde Mütter...
Was mir wichtig ist
- Der Artikel gibt nur meine ganz eigene, individuelle, persönliche Ansicht wieder. Ich zwinge niemandem meine Ansicht auf. Wenn du anderer Meinung bist, ist das für mich vollkommen in Ordnung. Ich wünsche mir nur, dass wir uns unsere verschiedenen Meinungen und Ansichten gegenseitig lassen können (gerade dann, wenn du ein genau gegenteiliges Familien- und Frauenbild hast als ich). Was hältst du vom "Zweinigen" nach Vera Birkenbihl? :-). Deine Ansicht ist nicht falsch und meine nicht.
- Mir geht es ausdrücklich nicht um Schuldzuschreibungen und Kategorisierungen ("Die Ansicht ist gut, aber die andere Ansicht geht überhaupt nicht").
3 Kinder - Das Glücksrezept?
Die Landtagswahl in Sachsen-Anhalt am vergangenen Sonntag (06.06.2021) hat mir den Einstieg in dieses sehr schmerzhafte Thema ermöglicht. Ich fand es beängstigend, dass ein AfD-Wahlsieg möglich war. Nein, keine Sorge, ich hole jetzt hier nicht aus und fange mit politischen Lagern an. Mir geht es um das Rollenbild der Frau und der Familie allgemein, welches einige Menschen in der AfD vertreten und ich mich oft frage, ob das wirklich ihr Wunsch ist.
Manche Menschen in der AfD hätten gern, dass wir Frauen beispielsweise wieder „mehr“ Kinder kriegen und wieder in „unsere Rolle schlüpfen“: Haushalt, Küche, Kinder, Job ja, aber im Dienste der Familie und Gesellschaft. Und da sind sie wieder, die (mindestens) „3 Kinder“. „3 Kinder“ zieht sich in meiner Familie durch wie ein roter Faden. Wie ist das bei dir?
Liebe ist nicht erzwingbar
So war ein wichtiger Antriebsmotor für meine Aufarbeitung der Depression etc. die intensive Auseinandersetzung mit meiner Familiengeschichte. Ich wollte wissen und verstehen, wie es so weit kommen konnte und warum ich mir fast das Leben genommen hätte. Die Geschichten meiner Eltern und Großeltern kenne ich sehr gut und es sind alles keine schönen Geschichten. Es tut mir weh, wie viel Gewalt, Vaterverlust, Alkohol, Schikane, Misshandlung, Erniedrigung in meiner Familie vorkommen. Immer unter dem Deckmantel von „Das war eben so üblich“. Und nach außen? Sollte keiner was sehen. Die Fassade stand. Makellos. Doch hinter der Fassade……..
Meine Oma hat mal erzählt, dass vom Getuschel der Nachbarn die Wohnungszusage abhing. Und wie, nur 2 Kinder?!?! Es war „üblich“, dass eine Frau 3 Kinder zu kriegen hatte. Und wehe, wenn nicht! Auch folgendes Ereignis vergesse ich nicht: 2019 probierte ich nach meinem Tantrakurs verschiedene Frauenkreise mit unterschiedlichen Ausrichtungen aus. Im Sommer hatte ich einen Frauenkreis entdeckt, welcher eine Art Kräuterausrichtung hatte. Ich war zwar nur einmal dort (die Gruppe war für mich vom Wohnort einfach zu weit weg). Doch an dem Abend trafen sich ungefähr 15 Frauen, was für einen Frauenkreis schon recht groß ist. Ich weiß nicht mehr, um was es genau ging. Während des Gesprächskreises erzählte eine ca. 60-jährige Frau, dass sie sich nach sehr langer Bedenkzeit endlich von ihrem gewalttätigen Mann getrennt hatte. Dabei weinte sie und das verstand ich erst nicht. Ich fand es toll, dass sie zu sich selbst stand! Aber dann sagte sie, dass sie von ihren Nachbarinnen im Wohnhaus, die ungefähr im selben Alter waren, fertiggemacht und offen angefeindet wurde. Sie hatte sich in deren Augen nicht zu trennen. Sie hatte für ihn zu sorgen. Es sei ihre Pflicht. Diese Frau hatte das Gefühl, etwas zutiefst Verbotenes getan zu haben.
Das mag man jetzt vielleicht abtun. „War eben so“. Doch ihre Geschichte erinnerte mich ganz sehr an meine Familiengeschichte. Und ähnelt wiederum vielen Lebensgeschichten, die mir im Alltag begegnen.
Aber…….
Wie soll eine Frau ihr Kind bzw. ihre Kinder lieben, wenn ihr die Kinder in den Bauch geredet werden? Wenn sie nicht selbst entscheiden darf, ob und wie viele Kinder sie bekommen darf? Bzw. THEORETISCH schon entscheiden darf, dann aber mit Konsequenzen und Ausgrenzung konfrontiert ist? Wie soll eine Frau ihr Kind lieben, wenn sie doch eigentlich gar keines bekommen will?
Missbrauch und erzwungenes Mama-Sein
Außerdem beschäftige ich mich viel mit Missbrauch und Gewalt. Erfahrungen, Ursachen, Auswirkungen. Will das Grauen verstehen. Will helfen. Aber nicht mit oberflächlichen Facebook-Posts. Tippe bei Google ein, warum es zu Missbrauch kommt... Und häufig lese ich, dass viele Täter selbst missbraucht und/oder misshandelt wurden. Nein, auch hier keine Sorge, ich will das Verhalten der Täter keinesfalls gutheißen! Ich denke, das geht aus meinen Artikeln deutlich hervor (zum Beispiel hier und hier).
Doch am 10.06.21 erhielt ich in der Nachbarschaftsapp nebenan.de eine Drohung per Privatnachricht. Subtil, aber es war eine. Hintergrund war mein Kommentar zur Vorstellung eines Projekts in der Nachbarschaft am 09.06.21, welche sich um Gewaltopfer kümmert. Ich schrieb, wie wichtig ich es finde, über Gewalt in jeglicher Form zu reden und dass ich auch Missbrauchsartikel veröffentliche. Daraufhin erhielt ich am 10.06.21 per Privatnachricht von einem Herren die Aufforderung, solche „politischen“ Themen aus der App herauszuhalten. Klar hatte ich zuerst Angst. Doch das ist ja genau der Mechanismus: Druck aufbauen, Schuldgefühle einreden, drohen. Ich kenne es zur Genüge. Also schrieb ich dann diesen öffentlichen Kommentar und komme damit auch zum Thema zurück:
„Und bei weiteren Drohnachrichten per PN [Privatnachricht] behalte ich mir vor, diese mit Namensnennung öffentlich zu machen und Anzeige zu erstatten (auch wenn sie subtil formuliert sind). Da hab ich „dank“ 2,5-jährigen Stalkings mittlerweile auch Erfahrung drin. Es ist nicht schlimm, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Anderen im Verborgenen zu drohen und mich als was Minderwertiges und Bedrohbares zu sehen, das finde ich schlimm. Ich bin ein Mensch, so wie ihr, klar?
Ich weiß, dass prügelnde und/oder wegsehende Mütter genauso ein Riesentabu sind. Ich kann in meiner eigenen Familie ein Lied davon singen und mir begegnen immer wieder Männer, denen man im
Leben nicht ansehen würde, was ihre eigenen Muttis mit ihnen gemacht haben. Oder denen nicht geholfen wird/wurde, wenn der (Stief-)Papa ausgeholt hat und/oder übergriffig wird/wurde. Ich kann es
so gut verstehen, wenn ein Kinderherz da tiefen Hass auf die Mama bzw. Frauen entwickelt. Und das sind keine Einzelfälle. Aber Mensch, ich hab so genug von diesen Bedrohungen. Seit 2,5 Jahren
begreift ein 65-jähriger Professor (!) nicht, dass ich von ihm nicht mehr betatscht werden will. Gerichte? Gleich das nächste Riesenthema. Bitte lasst doch mal das Drohen.
So, sorry, dass ich so ausgeholt hab, aber das staut sich an."
Prügelnde, wegsehende, zusehende, den Täter ermunternde Mütter...
Da erzählt mir ein Mann, wie er von Kindesbeinen an bis in die späte Pubertät von der Mutter schwer verdroschen wurde. Für alles. Für seine pure Existenz. Bis er selbst ausholte. Die Mutter war ab der Kindheit selbst zur Gewichtheberin gedrillt worden. Vom eigenen Vater. Hilfe? Von niemandem, auch nicht vom Papa. Heute? Ein studierter, attraktiver, 2 Meter großer Mann. Der sich nicht gegen die Gewaltexzesse seiner Exfreundin wehren konnte. Sie verließ ihn. Den „Waschlappen“. In einem sehr sensiblen und dunklen Moment erzählt er mir, welche Gewaltfantasien er hat. Er bemerkt nicht, dass er provozierendes Verhalten nicht abwehren kann; fühlt sich überlegen, wenn er den Provokateur (was auch eine Frau sein kann) „ganz nah an sich herankommen lassen kann“…… um dann „auszuholen“. Er würde auch den Tod des Gegenübers in Kauf nehmen. Das erzählt er mit eiskalter Ruhe, die ich nie vergessen werde.
Da erzählt mir ein Familienvater, dass er von der eigenen Mama schon dann verprügelt wurde, wenn er Bibeltexte nicht richtig wiedergeben konnte. Nach der Trennung der Eltern verlor er als Jugendlicher völlig den Boden unter den Füßen und lief einem Jugendgruppenleiter in die Hände. Er missbrauchte und vergewaltigte den Jungen drei Jahre lang. Dafür bekam er ja aber auch immer Geschenke und eine „gute Zeit“ - Das redet sich der Mann zum Schutz noch immer ein. Heute? Trennung kurz nach der Geburt des zweiten Kindes. Seine Frau weiß nichts vom Missbrauch.
Da erzählt mir ein Familienvater, wie er vom eigenen Vater im Kleinkindalter mit der Gummiwäscheleine schwerst misshandelt wurde. Den Erzählungen nach muss dem Jungen bei den Schlägen die Haut geplatzt sein. Ich fragte nicht nach. Der Junge wurde nur dann respektiert, wenn er „ordentliche Leistungen“ vorzuweisen hatte. Die Mama? Sah weg. Und wagte es nicht, gegen den Jähzorn vorzugehen. Sie selbst hatte für die „Pflichterfüllung“ in den 60ern ihre Sportkarriere aufgeben müssen. Diese sollten dann ihre Söhne nachholen. „Die Zeit war eben so.“ Heute? Zu drei von insgesamt vier Kindern hat der heutige Familienvater keinen Kontakt mehr.
Da erzählt mir eine Mama, dass sie und ihre Brüder vom besoffenen Stiefvater für alles verdroschen wurden. Den Gürtel nahm er dafür gern, ließ alle drei antreten und holte aus. Ihre Mutter? Sah weg. Sie und ihre Brüder wurden wie Sklaven gehalten, „das Klo musste mit der Zahnbürste geputzt werden“. Doch ihre eigene Mutter ging noch weiter. Als 10-Jährige wird sie von ihrer Mama hinter eine Garage gezerrt und dort schneidet sie der Tochter in einem Wutanfall die langen Haare ab. Auslöser dieser Misshandlung war, dass sich die Tochter die Haare über die Schulter gelegt hatte, um zu sehen, wie lang die Haare schon sind. Seitdem ließ sie sich die Haare nie wieder lang wachsen. Heute? Schwieriges Verhältnis vor allem zum Sohn. Vor ihrer mittlerweile 80-jährigen Mutter hat sie noch immer Angst.
Und. So. Weiter.
Ach Mensch……
Da soll es wieder hingehen?
In den meisten dieser und vieler weiterer Geschichten erfüllen die Frauen „ihre Pflicht“. Werden Mama, weil es von ihnen erwartet wird. Oder weil sie noch immer glauben, es sei unsere „natürliche Aufgabe“ als Frau, Kinder zu bekommen. Oder, und das tut jetzt auch weh: Reden ihren Töchtern aus verborgenem Missgunst ein, sie hätten auch Kinder zu kriegen. Und damit indirekt die Botschaft vermitteln: „Leide so wie ich.“
Sie bekommen bzw. bekamen die Kinder, die von ihnen erwartet wurden – und dann?
Und da soll es wieder hingehen?
Weiterführendes
Ich ziehe meinen Hut vor dir, falls du den Artikel bis zum Ende gelesen hast. Das meine ich ganz ehrlich. Es ist das Eine, sich vom Kopf her mit diesen Themen zu befassen. Doch mit dem Herzen...
Zum Abschluss habe ich noch einige weiterführende Links und Impulse zusammengetragen. Doch auch hier nochmal: Der ganze Artikel gibt nur meine Ansicht wieder.
Zwischen Drill und Misshandlung: Johanna Haarers "Die Deutsche Mutter und ihr erstes Kind" (Blogartikel)
von Dr. Susanne Gebert
Ein einfühlsamer Artikel, der nicht den Zeigefinger hebt. Außerdem werden viele weitere interessante Buchtipps im Artikel aufgeführt. Der Artikel hat mir auch bei meiner Aufarbeitung sehr geholfen, da ich viele Aussagen und Verhaltensweisen meiner Großeltern und Eltern besser einordnen konnte. Und ja, ich bin ehrlich: Ich frage mich oft, wie die Kindheit insbesondere der Menschen war, die sich heute "die alten Zeiten" zurückwünschen (siehe Artikelanfang)...
Adolf Hitler, die deutsche Mutter und ihr erstes Kind. Über zwei NS-Erziehungsbücher (Buch)
von Sigrid Chamberlain
Auch alte Wunden können heilen: Wie Verletzungen aus der Kindheit unser Leben bestimmen und wir dennoch Frieden in uns selbst finden können (Buch)
von Dami Charf
Wenn die Mutterliebe fehlte (Buch)
von Jasmin Lee Cori
Nur wer früher Opfer war, kann später Täter werden: Psychologisches Basiswissen für Eltern (Blogartikel)
von Anne Albinus
Zwei Versuche, mit meinen Kindern zu reden (Gedicht)
von Peter Härtling
Vor allem der erste Teil des Gedichts, an den Sohn, berührt mich tief...
Springsteen on Broadway (Netflix-Doku)
Diese intime Konzertaufzeichnung mit Bruce Springsteen von 2018 ist mir zu Herzen gegangen. Auf kleiner Bühne erzählt er u. a. Anekdoten aus seinem Leben. Es berührt mich einfach, wenn er Tränen in den Augen hat, als er über sein schwieriges Verhältnis zu seinem Papa spricht. Bei mir brach selbst ein innerer Damm als er irgendwann sinngemäß sagt: "Wenn ich von einem Menschen schon keine Liebe bekomme, dann mache ich ihn nach" (um den verheerenden Schmerz nicht zu spüren). Als ich diesen Satz auf diverse Familienkonstellationen bei mir übertrug, sind mir einfach nur die Tränen gelaufen.
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